Release March 8, 2024
EAN/UPC: 705304472422
Traumton CD: 4724
Lineup
Florian Favre piano & prepared piano Claire Huguenin vocals Amine Mraihi oud Baiju Bhatt violin Lucie Göckel cello Raphael Rossé euphonium Louis Matute guitar
Tracks 3, 8, 9 composed by Florian Favre, published by Traumton Musikverlag
Tracks 1, 4, 5, 6, 7 composed by Joseph Bovet, revisited & arranged by Florian Favre
Track 2 composed by Pierre Kaelin, revisited & arranged by Florian Favre
Recorded live by Simon Fankhauser at L’Échandole, Yverdon (CH)
Mixed and mastered by Simon Fankhauser
Artwork and photography by Stefanie Marcus, photo inside by Emmanuelle Nemoz
Info / Info english
Florian Favre – Idantitâ Revisited
Mit seinem Trio hat der Schweizer Pianist Florian Favre bereits mehrere erfolgreichen Alben veröffentlicht und sich international einen hervorragenden Ruf erspielt. Sein bislang letztes Werk war das Solo-Album Idantitâ, dessen Erscheinen im Januar 2022 viel beachtet wurde. Einerseits wegen Favres persönlicher, sehr freier Neudeutungen populärer Lieder seiner Heimatregion Fribourg in der West-Schweiz. Andererseits aufgrund der speziellen Klangfacetten, die Favre durch Manipulationen des Flügels kreierte. Die Berner Zeitung Der Bund jubelte: „Seine Dekonstruktionen und Verwandlungen dieser grossen Gesänge in jazzige, zarte, vielschichtige Klangteppiche sind […] bezaubernd, bedrückend und befreiend zugleich.“ Im SWR2 wurde die „charmante Eigenwilligkeit“ gelobt und resümiert: „Favres Erinnerungsalbum ist eine äußerst gelungene Suche nach der eigenen Identität“. Und im BR2 Klassik hieß es: „Er ist ein hervorragender Jazz-Solist – und seine Musik breitet die Flügel aus und beginnt zu fliegen.“
Schon während der Arbeit am Soloalbum entstand die Idee, „das musikalische Material weiter umzugestalten und zu sezieren, in einer Art künstlerischer Permakultur: mit dem Vorhandenen arbeiten, darauf aufbauen und es wiederverwerten“, erklärt Florian Favre. Dabei sollte erwähnt werden, dass das Repertoire von Idantitâ auch Stücke aus seiner Feder enthält, die er als Hommage an die Umgebung und Geschichte von Fribourg versteht. Im Jahr nach der Albumveröffentlichung spielte er rund 40 Solokonzerte, die ersten zwei Band-Engagements konnte er für den Juni 2023 beim Festival Altitudes in Fribourg verabreden. Drei Monate später folgten zwei weitere Auftritte im Théâtre de L’Échandole in Yverdon-les-Bains, aus deren Mitschnitten nun Idantitâ # Revisited zusammengestellt wurde. „Vor der Aufnahme gab es also nur zwei Konzerte, aber ziemlich viele Proben“, lacht Favre. „Das Festival Altitudes, das Echandole sowie weitere Förderungen haben uns finanziell unterstützt, so konnten wir uns Zeit nehmen, die Details und den Zusammenhalt auszuarbeiten.“
Allein durch seine Besetzung verleiht das internationale Ensemble den Stücken wiederum einen unerwarteten und individuellen Charakter. „Diese Gruppe ist eine Addition von sechs musikalischen Visionen“, freut sich Florian Favre, „zusammen erschaffen wir etwas Neues. Darin sehe ich eine Art Apologie der Stärke des Kollektivs und der Vielfalt.“
Bewusst hat Favre Musikerinnen und Musiker ausgesucht, die in der Schweiz leben, aber „sehr unterschiedliche musikalische Einflüsse und Vorstellungswelten in ihren Koffern mit sich tragen. Meine Idee war, die spezielle Klangsprache jedes Einzelnen zu integrieren, um dem Projekt viel Frische und Überraschungen zu verleihen und gleichzeitig den Baum der Gewohnheiten zu erschüttern.“ Zudem setzte Favre darauf, dass eine ungewöhnliche Besetzung „andere Formen der Interaktion hervorbringen kann.“ Mit vielen der Beteiligten hatte er zuvor schon in Duo- oder anderen Konstellationen gespielt, auch untereinander konnten manche auf frühere Begegnungen aufbauen. Etwa der aus Tunesien stammende Virtuose der arabischen Laute Oud Amine M’raihi (bekannt als Duo mit seinem Bruder Hamza) und der Jazz- und Fusion-Violinist Baiju Bhatt (Gründer des Quintetts Red Sun).
Den atmosphärischen Aufmacher La montagne gestalten Favre und Gitarrist Louis Matute zunächst als Duo, dabei setzt Matute klug Effekte ein, während Favre lustvoll die Wucht des Flügel auslotet. Im weiteren Verlauf locken Claire Huguenins melodische Melismen in warmer Mittellage, umspielt von Cello und Klavier, später ein wenig herausgefordert von Raphael Rossés Euphonium. Eine erste Begegnung vermeintlich weit entfernter Stilistik bietet im Anschluss Adyu mon bi Payi von Pierre Kaelin (1913-1995). Huguenins recht gradlinig, aber dynamisch gesungene Melodien kontert M’raihis Oud mit Arabesken. Nach einem Break zieht das Tempo an, wechselt die Stimmung vom dramatischen in einen widerständigen Gestus. Ausdrucksstarker Sprechgesang wird nun von miteinander verflochtenen Oud- und Violinen-Motiven begleitet, später treten Violine und Cello ins Zentrum, einem expressiv-offenen Teil folgt ein intensives Solo M’raihis (dessen solistische Imaginationskraft auch Le lutin du chalet des Rêbes verziert).
Das im 5/8-Takt tänzelnde Don’t Burn The Witch rückt Favres versiertes Spiel in den Blickpunkt, Stimme und Oud erscheinen beinahe übermütig. Für das Euphonium-Solo beruhigen sich alle, dann nehmen die Instrumente ihre rhythmischen Phrasierungen wieder auf. Mit dem Stück sinniert Favre über die ländliche Haltung, dass jemand, die oder der anders wirkt, nicht in Ordnung ist. „Es wird über Menschen geredet, die sich optisch oder wegen ihrer Meinung unterscheiden, und die werden recht schnell diskriminiert. Beim Schreiben dachte ich an eine Person, die verrückt tanzt, und dafür wollte ich diese Person musikalisch feiern.“
1986 geboren und aufgewachsen in Fribourg, hat Florian Favre zunächst klassisches Klavier gelernt, dann in Bern Jazz-Piano und Komposition studiert. Im Sommer 2019 zog er zurück nach Fribourg, genauer gesagt in einen rund 20 Minuten außerhalb gelegenen Vorort. Durch die Corona-Zwangspausen sah sich Favre unvermittelt vor die Frage gestellt, „wer und was ich eigentlich bin, wenn ich nicht mehr das tun kann, was ich sonst immer mache.“ Das Nachdenken über die eigene Identität führte zu einigen neuen Kompositionen und zu einer vertieften Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. „Ich komme aus einer großen Familie, in der viel gesungen wurde, doch hatte mich diese Tradition bislang nicht besonders interessiert.“
Das änderte sich nun. Favre recherchierte und wurde fündig, insbesondere im Gesamtwerk des Komponisten Joseph Bovet (1879-1951), der als Pfarrer und Kapellmeister an die 2000 profane und geistliche Stücke geschrieben haben soll. „Seine Stücke sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und dieser speziellen Chortradition, die wir im Kanton Fribourg haben.“ Auch Claire Huguenin ist mit diesem Erbe aufgewachsen und vertraut, sagt Favre. „Sie geht sehr kreativ damit um, scheut sich nicht, Konventionen zu brechen und bringt ihre rockige und exzentrische Note ein.“
Deutlich älter ist das schon 1710 publizierte Ranz des vaches, das auch von Bovet, Rossini oder Berlioz bearbeitet oder zitiert wurde. „Besonders für dieses Stück stellte ich mir vor, wie es sich durch die bezaubernden Ornamente, die man in der indischen Musik findet, verwandeln kann.“ Während der indisch-schweizerische Violinist Baiju Bhatt und Amine M’raihi auf ihre eigene Art die Musik mit Ideen aus der Ferne bereichern, sorgt Raphel Rossés Euphonium für regionale Perspektivwechsel. „Er bietet eine elegante und virtuose Neuinterpretation des Atems der Berge, der oft durch das Alphorn symbolisiert wird“, konstatiert Favre. „Es war für mich undenkbar, in diesem Projekt, in dem die Natur eine herausragende Rolle spielt, keinen Bläser zu haben.“
Natürlich sieht Florian Favre seine aktuelle Band auch stellvertretend für gesellschaftliche Veränderungen und Perspektiven. „Ich bin gegen Purismus und Konservatismus, man sollte neue Wege wagen können. Die Begegnung mit anderen Lebensstilen, Weltanschauungen oder Musik ist eine enorme Inspirationsquelle.“ Mit Idantitâ # Revisited zeigt Florian Favre wunderbar lebendig und höchst überzeugend, wie sich Traditionen aktualisieren lassen und wie bereichernd Vielfalt wirken kann.
Ein spektakuläres, auf dem Lac de la Gruyère gedrehtes Video ( https://youtu.be/KmpFxkWPjDY ) etablierte den Begriff Idantitâ. Das Lied Adyu mon bi Payi erzählt die Geschichte eines Bauern, der vertrieben wurde, weil er seine Milch mit Wasser verlängert hat.
***
Florian Favre – Idantitâ Revisited (english)
With his trio, the Swiss pianist Florian Favre has released several successful albums and earned himself an outstanding international reputation. His latest work so far was his solo album Idantitâ, which was released in January 2022 to great acclaim. Firstly because of Favre’s personal, very free reinterpretations of popular songs from his home region of Fribourg in western Switzerland. And secondly because of the unique sound facets that Favre created by manipulating the grand piano. The Bernese newspaper Der Bund praised: „His deconstructions and transformations of these great songs into jazzy, delicate, intricate soundscapes are […] enchanting, oppressive and liberating at the same time.“ SWR2 radio praised the „charming originality“ and concluded: „Favre’s album of memories is an exceptionally successful search for his own identity“. And BR2 Klassik radio said: „He is an outstanding jazz soloist – and his music spreads its wings and begins to fly.”
While working on the solo album, the idea arose already to „further reshape and dissect the musical material, in a kind of artistic permaculture: work with what is there, build on it and recycle it,“ explains Florian Favre. It should be mentioned that Idantitâ’s repertoire also includes pieces written by him, that he sees as a tribute to the surroundings and the history of Fribourg. In the year following the album’s release, he played around 40 solo concerts and was able to arrange the first two band shows for June 2023 at the Altitudes Festival in Fribourg. Three months later, two further performances followed at the Théâtre de L’Échandole in Yverdon-les-Bains, where the recordings of Idantitâ # Revisited were made.
The international ensemble’s line-up alone gives the pieces an unexpected and individual character. Favre deliberately chose musicians who live in Switzerland, but have very different musical influences and experiences.
Born in 1986 and raised in Fribourg, Florian Favre first learned classical piano, then studied jazz piano and composition in Bern. In the summer of 2019, he moved back to Fribourg, or more specifically to a suburb outside of the city. The forced breaks due to the corona pandemic confronted Favre with the question „who and what I actually am when I can no longer do what I usually do.“ Reflecting on his own identity led to new compositions and a deeper exploration of his own history. „I come from a large family where we sang a lot, but I hadn’t been particularly interested in this tradition so far.“
That changed now. Favre did some research and found what he was looking for, particularly in the works of the composer Joseph Bovet (1879-1951), who is said to have written around 2,000 secular and sacred pieces as a pastor and bandmaster. „His pieces are part of our collective memory and of this special choir tradition that we have in the canton of Fribourg.“ Claire Huguenin also grew up with this heritage and is familiar with it, Favre says. „She deals with it very creatively, is not afraid to break conventions and brings her very rocky and eccentric touch.“
Of course, Florian Favre also sees his current band as a representative for social changes and perspectives. „I’m against purism and conservatism, one should be able to explore new paths. Encounters with other lifestyles, world views or music are an enormous source of inspiration.“ With Idantitâ # Revisited, Florian Favre shows how traditions can be updated and how enriching diversity can be in a wonderfully lively and highly convincing way.