Release March 26, 2010
EAN/UPC: 705304453728
Traumton CD: 4537
Lineup
Carsten Daerr: piano Oliver Potratz: bass Eric Schaefer: drums
All tracks published by Traumton Musikverlag
Recorded and mixed by Martin Offik
Mastered by Wolfgang Loos
at Traumton Studios, Berlin
Info / Info english
Carsten Daerr Trio – Wide Angle
Reisen gehört zum Geschäft. Wer als Musiker nicht auf der Stelle treten will, sollte unterwegs sein, schließlich sind die wenigsten Künstler aus sich selbst heraus schaffende Originalgenies, die sich ohne den Austausch mit anderen Menschen und Kulturen weiter entwickeln. Das Carsten Daerr Trio war während der vergangenen Jahre viel auf Achse. „PurpleCoolCarSleep“ (2003), „Bantha Food“ (2005) und „Insomniac Wonderworld“ (2007) machten es möglich, Alben, die aufgrund ihrer sperrigen, mitreißenden Energie das Publikum neugierig werden ließen. Hier wurden Alternativen zur Lieblichkeit ähnlicher Formationen geboten, wurde Musik entworfen, die einem Versuchsaufbau glich, ohne dabei provisorisch zu wirken, und das Gefühl vermittelte, den Hörer an einer Grundlagenforschung zum aktuellen Stand kommunikativer Improvisation teilhaben zu lassen.
Das ging gut, weil das Carsten Daerr Trio zu diesem Zeitpunkt längst zu einem musikalischen Organismus zusammen gewachsen war, in dem jeder Beteiligte seine unentbehrliche Funktion zugewiesen bekam. Da war zum einen der Berliner Bandleader, der einst bei Kirk Nurock und Herbert Nuß gelernt, seine musikalischen Erfahrungen an der Seite von Kollegen wie Christopher Dell, Christof Lauer oder Bunky Green gesammelt hatte und sie nun in Form einer zunehmend abstrakt werdenden Formensprache sublimierte. Oliver Potratz wiederum, ein humorvoller Stoiker aus Hamburg am Kontrabass und umtriebiger Souverän des volltönenden Fundaments, der sonst mit Arne Jansen oder auch John Schröder seine Brötchen verdient, verordnete der Band eine Portion inspirierte Gelassenheit, die der Balance der Soundarchitektur zugute kam. Eric Schaefer schließlich, Workaholic, lustvoll bekennender Intellektueller und Fan kraftstrotzender Komplexität, darüber hinaus ein umsichtiger Komponist und beliebter Mitstreiter bei Kollegen wie Kalle Kalima, Michael Wollny, Arne Jansen und Ulrike Haage rundete das Trio mit polyrhythmischer Präsenz und einem Hauch von kreativer Anarchie ab.
Derart gewappnet also ging das Carsten Daerr Trio mit Unterstützung des Goethe-Instituts auf Tourneen, spielte in Südamerika und der Karibik, in Australien, Nordafrika, dem Nahen Osten und entwickelte die eigenen Klangideen schrittweise weiter. Die Erfahrungen mit Zuhörern von Damaskus bis Port-of-Spain führten die Musiker zu grundlegenden Erkenntnissen. Erstens: Komplexität macht nur dann Sinn, wenn sie verständlich bleibt. Abstraktion heißt dabei nicht zwangsläufig Loslösung von der Bedeutung, sondern kann auch zu einer Reduktion der Vielfalt auf wesentliche, spannende, unmittelbare Impulse führen. Zweitens: Zentral ist der gemeinsame Flow der Musik, der Einfälle, der Impulse, die das Trio vorantreiben. Drittens: Reisen ist großartig, wenn man es schafft, sich manchmal nicht so ernst zu nehmen, dafür aber alles um sich herum auf sich wirken zu lassen.
So entstanden schnell erste Einfälle zu neuen Komposition, als Skizzen notiert, zuweilen auch live ausprobiert. Darüber hinaus begannen die Musiker, ihre Eindrücke mit der Kamera festzuhalten, als Assoziationsanker, stellenweise sogar als Ergänzung zu den musikalischen Notizen. Eine Fotoserie mit Motiven entstand, die in loser Form mit den Erfahrungen in der Ferne zusammenhingen: die Mauer zum Westjordanland nahe Ramallah, ein Bazar, Gestänge, Kabel, Stacheldraht, ein Autowrack, das auf dem Kopf steht, Schafe, Berge, Baby Levi, das neue Leben. Stück für Stück setzte sich ein künstlerisches Ganzes zusammen, das die sich verändernde Klangsprache und Wirkästhetik des Trios abbildete.
Dazu kamen Soundmodifikationen. „Im Anschluss an ‚Bantha Food‘ habe ich angefangen, viel Orgel zu spielen“, meint Carsten Daerr. „Das war eine spannende Veränderung, wurde aber auch zum Problem. Denn eines Tages war das Ding kaputt. Außerdem war es jedes Mal ein Risiko, mit Leslie zu spielen. Diese speziellen Lautsprecher sind so empfindlich und unberechenbar. Also habe ich versucht, den Sound der Orgel auf das Klavier zu übertragen“. Resultat ist eine veränderte Spielweise, stellenweise flächiger, perkussiver als zuvor, die auf das ganze Trio ausstrahlt.
„ Wide Angle“, Musik durch die Perspektive des Weitwinkels, heißt auch, mehr zuzulassen als mit dem Blick des Teleobjektivs. Von der Orgel etwa stammt das psychedelische Moment. Flächige Farben, dichte Netzwerke, Rhythmen, die herben Rock der 70er zieren könnten, treffen auf wuchtige Akkorde. Cluster, die sich in perlende Melodiegirlanden auflösen, stehen neben gezielter Rücknahme der Opulenz, neben hingetupften Motiven, die in ihrer Konzentration auf das Miniaturhafte schon wie ein ironischer Seitenhieb auf den bedeutungsschwangeren Tonkult der Avantgarde erscheinen. Dann wird wieder kräftig gewühlt im Flügel, gerührt auf den Trommeln, gerannt über das Griffbrett.
Kontraste allenthalben und doch erweist sich der Spannungsbogen von „Wide Angle“ als in sich stimmig. Das liegt an der besonderen Bandchemie des Carsten Daerr Trios. Hier sind Individualisten am Werk, die jeder für sich klare Vorstellungen von der eigenen musikalischen Wirkung haben, diese aber in den Dienst des Gesamtklangs stellen. Sie sind getrieben von einer Haltung, die gelernt hat, dass Triospiel sich nicht mit dem Ästhetizismus oder dem Klangkonservatismus der Vergangenheit zufrieden geben muss. Zahlreiche Entwicklungen vor allem des vorangegangenen Jahrzehnts fließen mit ein, die bereits die richtigen Schritte in die Richtung einer echten Loslösung des Klaviertrios von den Vorgaben der Vergangenheit eingeleitet haben. „Wide Angle“ zieht daraus die konsequenten Schlüsse. Das Album zeigt nicht nur eine Band, die sich ein gutes Stück nach vorn bewegt hat. Es dokumentiert auch ein Trio, das die eigene Form kraftvoll und mit Genuss durchbricht.
Ralf Dombrowski
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Carsten Daerr Trio – Wide Angle (english)
Travelling is part of the business. Any musician who doesn’t want to get in a rut should keep moving; there are few artists indeed who can create solely from their own original genius, who can develop without exchanging with other people and cultures. The Carsten Daerr Trio has been on the move a lot during the past few years. “PurpleCoolCarSleep” (2003), “Bantha Food” (2005) and “Insomniac Wonderworld” (2007) made it possible – albums that made listeners curious with their unwieldy and contagious energy. An alternative to the sweet and smooth sounds of similar formations could be found here, music composed in an experimental setup without sounding provisional, music that let listeners feel like they were participating in cutting-edge research on a brand new type of communicative improvisation.
This worked well, because the Carsten Daerr Trio had, at this point, long grown into a musical organism in which each participant was assigned his own indispensable function. For one, there was a Berlin bandleader who once studied under Kirk Nurock and Herbert Nuß, gathering experience at the side of colleagues like Christopher Dell, Christof Lauer or Bunky Green, to then sublimate it all into increasingly abstract elements of style. Contrabassist Oliver Potratz on the other hand, a humorous stoic from Hamburg and industrious sovereign of the sonorous bottom-end, is a musician who otherwise earns his bread and butter with Arne Jansen or John Schroeder. He prescribed the band a healthy portion of inspired aplomb that did much to balance out the sound architecture. Eric Schaefer finally, workaholic, zealous intellectual, advocate of heavy-handed complexity, canny composer and popular colleague for fellow musicians Kalle Kalima, Michael Wollny, Arne Jansen and Ulrike Haage, rounds off the trio with his polyrhythmic presence and a touch of creative anarchy.
Thusly armed, and supported by the Goethe-Institut, the Carsten Daerr Trio went on tour. Playing in South America and the Caribbean, in Australia, North Africa, and the Middle East, they took their own sound further. Their experiences with audiences from Damascus to Port-of-Spain led the musicians to some fundamental insights. Firstly: complexity only makes sense when it remains comprehensible. Abstraction doesn’t necessarily mean separation from meaning here, but can also lead to reducing diversity down to integral, suspenseful, and instantaneous impulses. Secondly: The common flow of the music is what is essential – the ideas, the impulses that drive the trio forward. Thirdly: Travelling is wonderful if you can manage not to take yourself too seriously, but can savour everything happening around you. Ideas for new compositions arose quickly from this, scratched down as notes, sometimes tried out live. In addition, the musicians began to capture their impressions with the camera, to anchor associations or complement the musical notes. A series of photos emerged, with subjects that were loosely connected with the experiences from afar: the West Bank barrier near Ramallah, a bazaar, poles, cables, barbed wire, a car wreck standing on its head, sheep, mountains, baby Levi, new life. Piece by piece an artistic whole was assembled, a whole which portrays the trio’s ever-changing language of sound and aesthetic effect.
Sound modifications were added. “After ‚Bantha Food‘ I started to play a lot of organ”, says Carsten Daerr. “That was an exciting change, but also became a problem. Because one day the thing was broken. Also it was always risky to play with the Leslie. These specially constructed loudspeakers are so sensitive and unpredictable. So I tried to take the organ sound over to the piano.” The result is an altered playing technique, more spacious here and there, more percussive than before, and this carries over to the entire trio.
“ Wide Angle”, music from exactly that perspective, also means taking in more than the sights of a simple lens. From the organ, for example, arises the psychedelic moment. Spacious colors, dense networks, rhythms that could drive 70’s hard rock meet mighty chords. Clusters that dissolve in sparkling garlands of melody stand beside a systematic withdrawal of opulence, beside little dapples of motifs that seem, by concentrating on the miniature, to be an ironic side blow to the mega-profound sound cult of the avant-garde. Then again comes the manic scrabbling on the piano, the churning of the drums, the fingers racing across the fret board.
Contrasts everywhere and still the entire spectrum of “Wide Angle” is harmonious in itself. This is certainly due to the extraordinary chemistry of the Carsten Daerr Trio. There are individualists at work here, each having a clear idea of his own musical effect, but placing it at the service of the entire sound. They are driven by the realization that playing in a trio doesn’t mean you have to be content with the aestheticism or conservatism of the past. Numerous developments, especially from the last decade flow in, leading this piano trio to take the right steps towards freeing itself from the rules and regulations of the past. “Wide Angle” draws all the right conclusions. The album doesn’t only show a band that has significantly moved forward. It documents a trio breaking with its own form, powerfully, and with the greatest pleasure.
Ralf Dombrowski