Release March 27, 2009
EAN/UPC: 705304452424
Traumton CD: 4524
Lineup
Lea W. Frey: vocals Venezian: rhodes,keys, programming
studio / live:
Peter Meyer: guitar Bernhard Meyer: bass Raphael Becker-Foss: drums & toys
All music written by Nachtlüx
except: „Weit wie ein Meer“ (Lea W. Frey, Anselm Venezian Nehls, Klaus Sebastian Klose), „Suchen“ (Lea W. Frey, Venezian, Peter Meyer)
All lyrics by Lea W. Frey
except: „Einladung“ (Kirsten Wiedmann)
Published by Traumton Musikverlag
Recorded by Venezian at Klangzentrale Berlin and by Martin Offik at Traumton Studios, Berlin
Mixed by Venezian at Klangzentrale Berlin
Mastered by Wolfgang Loos at Traumton Studios, Berlin
Produced by Venezian
Nachtlüx – Nach Norden
“nach norden” – ein Aufruf; ein Zeitpunkt; ein Gefühl; oder einfach nur eine Antwort. Die dazugehörige Frage ist der ideelle Kern des im Frühjahr auf Traumton Records erscheinenden gleichnamigen Debutalbums der Gruppe nachtlüx. “Wohin zieht es uns?” singt Lea W. Frey, und sofort spürt man, dass sie damit nicht nur eine Liebesbeziehung meint. Es geht um Utopien; schmerzhafte, weil flüchtig-irreale, Tagträume. “nach norden” bleibt nicht die einzige Antwort: die Reise geht dorthin “wo sie singen”, “hinter’n horizont” oder an den “blättersaum, rissig und karg”, ins “nirgendwo”, dahin, “wo die wolken sich verschieben”.
Klangkünstler und Produzent Venezian webt diese Sehnsuchtsgesänge kunstvoll ein in einen komplexen, vielfarbigen Klangteppich: Freys vielstimmige Chöre, opernhaft gebrochen, bisweilen dissonant; präparierte Klaviere, singende Bässe, stampfendes Schlagwerk; Streichquartett, Weltraum-Sonar – dazu lässt er Messer tanzen, Uhren ticken, Züge rattern. Und immer wieder erklingt, versöhnlich, aber voller Wehmut, das Fender Rhodes.
Der Produzent und die Sängerin lernten sich 2003 kennen, beide auf der Suche nach dem Herzensprojekt. Seitdem sind in teils mühevoller, von Rückschlägen erschütterter, aber immer mit neuer, größerer Liebe und Energie wiederaufgenommener Arbeit die Songs für das Debut entstanden: Kleinode, denen man jede Minute ihrer langsamen, behutsamen Entwicklung anmerkt.
“ nacht-lüx – nacht-licht: Mit dem Namen haben wir versucht, die uns und unserer Musik innewohnenden Zwiespälte auszudrücken,” erläutert Venezian, “wir sind als kreatives Duo ja ein ganz klassisches Gegensatzpaar, Frau-Mann, Mensch-Maschine. Und da wir uns als gleichberechtigt empfinden, gibt es häufig Reibungen und Differenzen – die kann man als Spannung in unserer Musik spüren.”
Diese Spannung empfindet man bei einem nachtlüx-Konzert beinahe körperlich: Wenn Lea W. Frey ihre warme Stimme stetig an- und abschwellen lässt – vom gebrochenen Flüstern zum verzweifelten Schreien und zurück – und Raphael Becker-Foss (dr), Marco De Vries (git), Peter Meyer (git), Bernhard Meyer (b) und Venezian (rhodes, laptop) in höchster Konzentration den Instrumenten ungeahnte Klangfarben entringen, dann hat man bisweilen das Gefühl, einer spirituellen Veranstaltung beizuwohnen: der Anrufung eines gemeinsamen Geistes, eines lange verlorenen Glücks, einer unerreichbar-verklärten Welt. Eine romantische Haltung, zweifellos, aber gerade daher hochaktuell: “oh, das tut so gut / aber wieso / geht es nicht ganz anders / als ganz anderswo?” fragt Lea W. Frey – und bringt damit die systematischen Irrwege, die innere Heimatlosigkeit ihrer zerrissenen, zerstreuten, ziellosen Generation nebenbei auf den Punkt.
Doch nachtlüx richten sich nicht ein in der Misere, der Blick ist janusköpfig auch immer in die Zukunft gerichtet. Der Weg mag beschwerlich sein, das Ziel unerreichbar, die Reise wird dennoch angetreten. Hoffen ist menschlich und alle Wege führen, alle Vögel ziehen, ja ohnehin nach norden.
“ Ich sehe mich als Teil eines Klangkörpers, als ein Instrument innerhalb eines orchestralen Gefüges,” beschreibt Lea W. Frey ihre Rolle als Sängerin von nachtlüx. Obwohl sie innerhalb der Band natürlich zumindest ein Soloinstrument darstellt, erzählt diese Einschätzung viel über ihr Verständnis von Musik und Musikerpersönlichkeiten. Die Musik – der Ausdruck, der Klang – steht als Idealbild über allem. Ihr hat sich der ausübende Künstler unterzuordnen. Und nicht nur der; auch Freys lautmalerische Liedtexte entstehen in erster Linie nach klanglichen Gesichtspunkten: “Einige unserer Stücke sind rein assoziativ entstanden, ich habe mich einfach vor’s Mikro gestellt und gesungen. Ich mag diese Direktheit, den rohen unverfälschten Ausdruck. Was auch immer dann dabei herauskommt, es ist jedenfalls ehrlich. So schnell hat man gar keine Zeit, sich Gedanken zu machen oder Dinge künstlich zurechtzubiegen. Die Stimme ist in dem Augenblick einfach mein direkter Zugang zu mir selbst. Ich bringe das nach aussen, was mich gerade bewegt, ohne Kompromisse. Die meiste Zeit hierbei kostet manchmal das fallen lassen jeglicher Barrieren und verknoteter Hirnwindungen, die sich im Laufe des Lebens angesammelt haben. Aber das lohnt sich. Kann ich nur empfehlen”. Sie lächelt.
Diese Art der Selbstentblößung erfordert Mut, vor allem vor Publikum – den hat die in Berlin geborene Löwin mit in die Wiege gelegt bekommen. Als Kind zweier freier Künstler wurde sie zum Nonkonformismus gewissermassen erzogen. Als ihre Mitschüler “Take That” anhimmelten, lauschte Lea W. Frey lieber den ungezogenen Liedern von Rio Reiser – und begann, Unterricht in klassischem Gesang zu nehmen.
Ihre Texte lässt Lea gern offen im Raum stehen – oder besser schweben. Jeder darf hineingreifen in ihre Wortgebilde. Das mitnehmen und interpretieren, was anrührt, Kraft gibt oder irritiert: “Es war auch nie eine Frage für mich, ob ich auf deutsch singen sollte. Das ist ja meine Muttersprache! Ich habe schon vor zehn Jahren, als ich damit anfing – und das war damals ja gerade durchaus unüblich – meine Lieder auf deutsch geschrieben. Die Sprache hat doch so einen wunderschönen Klang, so viele farbige Wörter – man braucht nur mal Trakl lesen.” Seit 2005 studiert Lea W. Frey in Weimar Jazzgesang. Es sei manchmal schwierig, sich selbst treu zu bleiben, wenn man sich länger intensiv mit Musiklehre und Jazzstandards beschäftigt, resümiert sie, aber ihre Linie ist unanfechtbar und wird mit umso größerer Entschlossenheit verfolgt: Mehr Herz, weniger Kopf. Mit dem geht’s allenfalls mal durch die Wand.
Einer ihrer neuen Helden ist der Schweizer Obertonsänger Christian Zehnder. Von ihm lernte sie, daß sich Inhalte, Seelenzustände, ganze Geschichten, völlig ohne Worte erzählen lassen. Vielleicht ist dies ja der nächste Schritt auf Lea W. Freys Weg zu einer unmittelbaren Form menschlichen Ausdrucks. Einem Weg, der sie gleichermaßen auch zurück führt: zu den Gesängen der Vorzeit und dem unverdorbenen Schrei des Neugeborenen.
Als Hirn von nachtlüx ist Venezian gewissermassen Lea W. Freys Gegenpart. Berufungsweise Produzent und Audiokünstler ist er für die ausufernden Klanglandschaften und ausgefeilten Rhythmen verantwortlich, die Lea W. Freys Stimme begleiten, umspielen – oder ihr erbittert entgegenstehen in der ewiggleichen immerneuen Auseinandersetzung der Prinzipien, der Elemente, der Gegensätze.
“ Durch Nacht zum Licht” – diese kämpferische von Senecas “per aspera ad astram” abgeleitete Volksweisheit, wurde für ihn nicht von ungefähr schon früh zur musikalischen Handlungsanweisung und zur Grundkonstante in seinem Schaffen – wuchs er doch zu den Klängen der Obertitanen Beethoven, Brahms und Mahler auf. Als Kleinstkind: der liebste Ort unter dem Flügel, vor der Stereoanlage, reglose Stunden der stillen Ekstase zu endlosen Arpeggiopassagen, zu grollenden Kontrabässen, donnernden Kadenzen und Engelschören. Dann Grundschule und, wie bei vielen euphorisiert durch die frühen Beatles, die Hinwendung zur Populären Musik. Auch hier wieder unwiderstehlicher Drang zum kathartisch-monumentalen, mit der Existenz ringenden: die “Saurier” des Rock – Pink Floyd, Led Zeppelin, ELP – sind die zweite Quelle, aus der sich seine musikalische Weltanschauung speist. Ewiggestrig könnte man sagen, romantizistisch, lange vorbei.
“ Aber wer ist denn heute noch an den fundamentalen Fragen interessiert?”, hält Venezian dagegen. “Was mir fehlt in unserer postmodernen Musiklandschaft – schmerzhaft manchmal -, das ist die Versenkung, die Ernsthaftigkeit, das sublime. Wer ist denn heute noch zu echter, unprätentiöser Melancholie fähig? Das ist doch gar nicht spaßgesellschaftskonform; dabei haben wir allen Grund zur Schwermut. Wenn ich Musik mache, ist das Gottesdienst – nicht notwendigerweise im religiösen Sinne. Musik muss eine Verbindung herstellen zwischen mir und dem Kosmos, einem höheren Sein, das nur indirekt erfasst werden kann, vielleicht auch einfach einem Urtrieb, wer weiß. Dass das sehr esoterisch klingt, ist mir klar – schade, dass der Begriff so unangenehme Konnotationen hat.”
Trotzdem der – ebenfalls als Löwe – in Berlin geborene Venezian sehr früh Klavierunterricht erhält, im Chor singt, sich durch Klassik und Romantik wühlt, eigene Songs schreibt und in diversen Schülerbands Schlagzeug und Gitarre spielt, vergeht lange Zeit, bis das ultimative Ausdrucksmittel gefunden ist: Erst im Alter von 22 Jahren entdeckt er während einer Ausbildung zum Toningenieur die Möglichkeiten des Komponierens am Computer: “Ich hörte damals zum ersten Mal wirklich Radio – also zeitgenössische Popmusik. Und obwohl ich die zum größten Teil belanglos fand, fragte ich mich immer: Wie zur Hölle machen die diesen Sound? Es war ja um die Jahrtausendwende und alle Produktionen wimmelten von digitalen Gimmicks. Das hat mich maßlos interessiert.”
Nun brechen alle Dämme: Mit Hilfe des Rechners wird der Traum, symphonische Denkweise mit modernstem Sound zu verschmelzen, Wirklichkeit. In der Tradition Brian Enos wird das Studio selbst zum Musikinstrument, zur Klangzentrale, in welcher die Beiträge verschiedenster Musiker aufgenommen, zerteilt, verarbeitet und rekombiniert werden. So entstehen Filmmusiken, Klanggemälde – und natürlich die Musik von nachtlüx: “Man darf jetzt nicht denken: der hockt in seinem Studio und schraubt und die Lea kommt dann und singt was. Unsere Musik entsteht gemeinsam, das ist das besondere. Obwohl wir im Ursprung ein Studioprojekt sind, ist nachtlüx immer musikalischer Dialog. Mal legt sie was vor und ich arbeite dann um ihre Stimme herum, mal ist es andersrum. Die Ideen springen hin- und her. Über manche Stücke haben wir uns schon monatelang die Köpfe eingeschlagen. Am Ende kommt dann immer etwas sehr, sehr eigenes heraus.”
2007 nimmt Venezian in London das Studium der ‘Popular Music’ auf. Auf den Spuren der Beatles und Damon Albarns beobachtet er die englische Art, mit Musik im Alltag umzugehen: “Die haben eine Selbstverständlichkeit in ihrer Popmusikrezeption, davon sind wir hier noch meilenweit entfernt. Das liegt an der Unmittelbarkeit der Sprache und an der Direktheit oder – im positiven Sinne – Schamlosigkeit der englischen Musiker. Die Musik geht da tatsächlich jeden an, es gibt wenig ironische Distanzierung. Das haben bei uns seit dem Krieg ja nur wenige Gruppen geschafft. Ich finde, es ist Zeit, dass sich das ändert.”