Release August 08, 2019
EAN/UPC: 705304467527
Traumton CD: 4676
Supported by
Lineup
Matthias Boguth: vocals, compositions Philip Frischkorn: piano Stephan Deller: double bass Philipp Scholz: drums
All lyrics by Dylan Thomas, published by The Trustees for the Copyright of Dylan Thomas
All compositions by Matthias Boguth Recorded and mixed by Joh Weisgerber, mastered by Wolfgang Loos at Traumton Studios, Berlin
Produced by Matthias Boguth & Joh Weisgerber
Info / Info english
Matthias Boguth – Milk Wood
Ein solches Debüt findet sich selten. Matthias Boguth, Jahrgang 1996, studiert seit drei Jahren an der Hochschule in Leipzig, hat bereits als Leiter verschiedener Bands und Projekte einige Bühnenerfahrung gesammelt, aber vor Milk Wood noch kein Album veröffentlicht. Umso mehr beeindruckt nun die Tiefe und stringente Vielfalt der Produktion. Zweifellos hat sich Boguth konzeptionell und kompositorisch viele Gedanken gemacht, dazu gleichgesinnte und sensible Musiker gefunden und mit Joh Weisgerber (alias Monojo) auch einen Produzenten an seiner Seite, der über ein feines Gespür für Klangfarben und -ästhetik verfügt. Gemeinsam vermessen sie ein vermeintlich vertrautes Terrain, nämlich die Vertonung von Poesie aus der Feder eines Schriftstellers, verblüffen dabei aber mit ungewohnten musikalischen Blickwinkeln. Boguths individuelle, genresprengende Klangsprache reicht weit über Jazz hinaus, verweist bisweilen auf Joe Jacksons intelligent-eingängige Melodik oder auf die verspielte Komplexität des Progressive Rock. Wobei es sich nicht um bewusste Referenzen handelt, weil Boguth sich nie mit Musik aus dieser Richtung beschäftigt hat.
Aufgewachsen im Umland von München, kam Matthias Boguth durch Freunde aktiv zur Musik. Als Grundschüler spielte er Statistenrollen an der Bayerischen Staatsoper, die aber nichts mit Gesang zu tun und somit keinen direkten Einfluss auf seine heutige Karriere hatten, wie er heute sagt. Nach der obligatorischen Blockflöte lernte er zunächst Klavier, kehrte mit 16 Jahren dem Gymnasium den Rücken, um sich an der Neue Jazzschool München einzuschreiben. Bei der Aufnahmeprüfung fokussierte sich Boguth auf Gesang, da er zuvor bei verschiedenen Indie-Poprock-Bands als Sänger mitgewirkt und Spaß daran gefunden hatte. „Eigentlich wollte ich an der NJM Popmusik machen“, grinst Boguth rückblickend, „doch das erste Stück, das wir im Unterricht bearbeitet haben, war Miles Davis‘ Kind Of Blue.“ Die so geweckte Faszination für Jazz vertiefte er durch Besuche diverser Konzerte, 2015 ging er an die Hochschule für Musik und Theater in Leipzig.
Schon früh hat sich Matthias Boguth in der Position eines Bandleaders eingerichtet. „Als Sänger wird man viel seltener gefragt, ob man irgendwo mitmachen möchte, deswegen war und ist es meistens so, dass ich selbst Projekte initiiere.“ Hinzu kommt, dass Boguth ein leidenschaftlicher und zudem sehr produktiver Komponist ist. „Ich schreibe ständig Ideen auf, zu denen ich im Alltag inspiriert werde“, erklärt er seine Arbeitsweise. „Auslöser können Verkehrs- und andere Geräusche sein, aber auch Beobachtungen, etwa Strukturen von Bauwerken.“ Optische Eindrücke in Klänge umzusetzen, ist wohl eine eher ungewöhnliche Herangehensweise. „Manchmal notiere ich Sachen dermaßen abstrahiert, dass ich irgendwann nicht mehr weiß, wo die ursprüngliche Idee herkam, was aber auch nicht wichtig ist. Die Notizen sortiere ich später nach Formen, Harmonien und Melodien und auf dieses ‚Wörterbuch‘ greife ich dann beim tatsächlichen Komponieren zurück. Deswegen kann die Ausarbeitung eines Stücks relativ schnell gehen.“
Zu Boguths erklärten Impulsgebern gehören Theo Bleckmann, John Hollenbeck und Michael Wollny. „Dabei gehe ich vom Kompositorischen aus. Bleckmann hat einen sehr puren Sound, Wollny schreibt verständliche, klare Formen, alle drei sind darauf aus, der Musik zu dienen.“ Ein hohes Maß an Klarheit, egal wie wandlungsfähig, variabel und voller Wendungen das jeweilige Stück letztlich in sich ist, begeistert Matthias Boguth. Diese Haltung trägt viel zum besonderen Charakter von Milk Wood bei. Bei der Wahl seiner gesanglichen Mittel zeigt Matthias Boguth einerseits eine große Spannweite, andererseits driftet er aber nie in exaltierte oder gar artifizielle Sphären ab. Sein volltönender Bariton kann jäh von warmem Timbre in nachdrücklichen bis scharfen Ausdruck umschlagen, zuweilen spielt er auch mit freien, suggestiven Klängen oder großer Geste, stets behält er die Komposition im Blick.
Auf die Frage nach der Besetzung des Quartetts antwortet Boguth als erstes: „Ich wollte unbedingt mit genau dieser Band spielen.“ Den Kontrabassisten Stephan Deller kennt er bereits seit einigen Jahren und schätzt dessen fundiertes Spiel und ruhige Ausstrahlung. Wollny-Meisterschüler Philip Frischkorn (u.a. Eva Klesse Quartett) beeindruckt auch bei Boguth durch Virtuosität und persönlichen, u.a. von europäischer Klassik und Moderne inspirierten Ausdruck. Schlagzeuger Philipp Scholz wiederum hat Erfahrung mit Poesie-Vertonungen, da er bereits mit Nora Gomringer auf Tournee war. Entsprechend feinfühlig weiß er mit gesprochenen und gesungenen Worten umzugehen.
Erst als die Band feststand, begann Boguth mit der Ausarbeitung seiner Kompositionen, natürlich auch eingedenk der speziellen Qualitäten seiner Partner. Dabei setzte er auf zwar detaillierte, aber doch knapp bemessene Leadsheets, um Räume für Interaktionen und spontane Ideen zu lassen. Im Juni 2017 feierte Milk Wood Bühnenpremiere, in den folgenden Monaten kamen weitere Auftritte dazu, die dank des offenen Spiels immer wieder andere Facetten entwickelten. Im Traumton Studio nahm das Quartett binnen zwei Tagen mehrere Versionen der Stücke auf, entschied sich letztlich überwiegend für die Takes mit etwas ruhigerer Stimmung. Schon während der Einspielungen steuerte Joh Weisgerber detailscharfe Produktions-Ideen bei, darunter punktuell eingesetzte elektronische Effekte, Alltags- und Naturgeräusche. Spezielle Gesangsfarben (beispielsweise in The Corner und What Seas Did You See) hat Boguth direkt im Studio gesungen, manche davon später gemeinsam mit Weisgerber noch stärker akzentuiert. Der Gedanke dahinter war, eine Klangbrücke vom Band- zurück zum Hörspielcharakter zu schlagen.
Dylan Thomas entdeckte Boguth durch Christopher Nolans Film Interstellar, in dem ein Gedicht des Schriftstellers vorkommt. „Ich hatte schon vorher nach fremden Texten gesucht, als Vehikel für meine eigene Weiterentwicklung als Komponist“, erklärt Boguth. Im Original ist Thomas‘ Under Milk Wood ein Radiohörspiel von 1954, das einen Tag im walisischen Küstendorf Llareggub erzählt. „Thomas beschreibt sehr klangvoll, wie die Leute aufwachen und durch den Tag und Abend gehen. Es passiert nichts Spektakuläres, vielmehr handelt es sich um kleine Alltagsszenen.“ Für das Album suchte sich Boguth einzelne Motive heraus, um sie in Songs zu verwandeln. Die Verdichtung führt zu manchen willkommenen Brüchen, den chronologischen Ablauf von Mitternacht bis Mitternacht behielt Boguth aber bei. Aus ihm resultieren nun einige relativ ruhige Stücke am Anfang der CD, während im zweiten Drittel kräftigere Energieschübe bis hin zu expressiven Passagen aufleuchten. Wie anderswo auf der Welt endet auch in Llareggub der Tag in einer Bar mit durchaus aufbrausenden Momenten, ehe man schließlich hinaus in die Nacht tritt, die den Eulen gehört.
Boguths sonore, wandlungsfähige Stimme, das nuancierte bis kraftvolle Spiel der Musiker und die dramaturgischen Bögen der Musik ziehen den Hörer immer mehr in die Geschichte(n) hinein. Dem teils gesprochenen Intro folgt das atmosphärische The Draper mit zurückhaltendem Gesang, impressionistischen Klavier und mysteriöser, gestrichener Basspassage. Deutlich von Jazz inspiriert klingt Whose Name Was Tom, hier intoniert Boguth neben schwelgerischen Melodien auch melismatische Aufschwünge. Der erste markante, Rock-inspirierte Energieschub überrascht mit beinahe überfallartiger Dynamik in What Seas Did You See. Die Melodieführung von When I Wake nähert sich avanciertem Pop und bleibt doch im Jazz geerdet, die euphorische wirkende Hookline von There’s A Face kontrastiert mit dem zunächst lauernden, sich dann steigernden Mittelteil des Songs.
Matthias Boguth sagt von sich, dass er sich schon immer gerne in vielen Genres bewegt hat und unter anderem genau dieses Talent auch an seinen Bandpartnern schätzt. Tatsächlich ist Milk Wood ein gelungenes Beispiel für undogmatische musikalische Offenheit. Denn bei aller Vielseitigkeit wirkt das Album in sich rund und konsequent. Ein entschlossenes und bemerkenswertes Debüt eines klugen Sängers und Komponisten, dem man eine große Zukunft prophezeien kann.
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Matthias Boguth – Milk Wood (english)
Such a debut is rare! Matthias Boguth, born 1996, already has quite some stage experience as leader of various bands and projects, but hasn’t released an album before Milk Wood. All the more impressive are the depth and compelling diversity of this production. Clearly Boguth gave great thought to concept and composition and furthermore found like-minded and sensitive musicians. With Joh Weisgerber (alias Monojo) he also has a producer at his side, who possesses a fine sense of timbre and sound aesthetics. Together they explore an allegedly familiar terrain, namely setting the poetry of one writer (in this case Dylan Thomas) to music, but they amaze at it with their unusual musical perspective. Boguth’s individual, genre-busting sonic language reaches far beyond jazz, at times references Joe Jackson’s intelligently catchy melodics or the playful complexity of progressive rock. Whereby these are not conscious references though, because Boguth has never dealt with such music.
Some of Boguth’s declared sources of inspiration are Theo Bleckmann, John Hollenbeck and Michael Wollny. “I’m going by the compositional traits there; Bleckmann has a very pure sound, Wollny writes comprehensible, clear forms and all three of them are focused on serving the music.” A high degree of clarity fascinates Boguth, no matter how versatile, variable and full of twists and turns the piece might be in the end. This approach contributes a lot to the extraordinary character of Milk Wood. On one side Matthias Boguth exhibits great range with his choice of vocal techniques, but on the other he never drifts off into exalted or even artificial spheres. His sonorous baritone can shift abruptly from warm timbre to insistent or sharp expression and occasionally he also plays with free, suggestive sounds or large gestures.
Boguth only began developing his compositions when the specially therefore formed band was fixed, certainly also considering the particular qualities of his partners. He relies on often detailed, but very brief lead sheets, to leave room for interaction and spontaneous ideas. In June 2017 Milk Wood celebrated their stage premiere; in the months after more gigs followed and thanks to the open playing, they always develop other facets. At the Traumton Studio the quartet recorded several versions of the pieces within two days and in the end chose mostly takes with somewhat calmer atmosphere. Already during the recording process Joh Weisgerber contributed precisely detailed producing-ideas, including selectively implemented electronic effects, everyday sounds and nature sounds. Boguth created some special vocal timbres (for example in “The Corner” and “What Seas Did You See”) directly in the studio, some of them he accentuated even more strongly later with Weisgerber. The notion behind that was to sonically bridge from the band sound back to an audio drama character.
The original Under Milk Wood by Dylan Thomas is a radio play from 1954 that tells a day in the Welsh coastal village Llareggub. “Thomas artfully describes how the people wake up and go about their day and evening. Nothing spectacular happens, instead it is about little everyday scenes.” For the album Boguth selected individual motifs to turn them into songs. The densification leads to some welcome disruptions, but Boguth maintained the chronological course of events from midnight to midnight. This results in some relatively quiet pieces in the beginning of the CD, while powerful boosts of energy and expressive passages light up in the second third. Like elsewhere in the world the day in Llareggub also ends in a bar with a few surging moments, before stepping out into the night, which belongs to the owls.
Boguth’s sonorous, versatile voice, the finely nuanced and at other times vigorous playing of the musicians and the dramaturgic curve of the music draw the listener into the stories more and more. The partly spoken “Intro” is followed by the atmospheric “The Draper” with restrained singing, impressionistic piano and a mysterious, bowed bass passage. “Whose Name Was Tom” sounds distinctly jazz-inspired; here Boguth voices rapturous melodies and melismatic upswings. The first striking, rock-inspired boost of energy surprises with almost violent dynamics in “What Seas Did You See”. The melodic lines of “When I Wake” come close to advanced pop music and yet still stay grounded in jazz, the euphoric-seeming hook line of “Oh There’s A Face” contrasts the initially lurking, later crescendoing middle part of the song. Matthias Boguth says of himself, that he has always felt at home in many genres and among other things also values precisely this talent in his band partners. Milk Wood is truly a successful example for undogmatic musical openness. Because despite all versatility, the album appears well-rounded and consistent: a determined and remarkable debut of a smart singer and composer, for whom one can predict a great future.