Release September 23, 2022
EAN/UPC: 705304470824
Traumton CD: 4708
Lineup
Ludwig Hornung: piano Phil Donkin: double bass Bernd Oezsevim: drums
Info / Info english
Hornung Trio – Strukturen
Vielleicht unterscheiden sich amerikanische und europäische Jazz-Pianisten am auffallendsten dadurch, dass jene aus der „alten Welt“ größtenteils mit Klassik aufwachsen, ehe sie sich der improvisierten Musik zuwenden. Es ist natürlich kein Zufall, dass sich Einflüsse von (Spät)Romantik bis zur klassischen Moderne nun auch – markanter denn je – im Spiel von Ludwig Hornung ausmachen lassen. Sie verleihen seinen Kompositionen und dynamischen Improvisationen einen entschieden eigenen Charakter. Zudem offenbaren sie eine geradezu frappierende Entwicklung des Musikers und seiner Band, deren Debüt Spieler 2017 bei Double Moon Records erschienen ist.
Der eindrucksvolle Reichtum an Klangfarben, der allein schon durch nuancierten Anschlag auf dem Flügel möglich wird, ist essentiell für alle Stücke auf Strukturen. Ebenso wie der Verzicht auf traditionelle Formen, etwa dem typischen Ablauf ‚Thema-Solo-Thema‘. „Es war mir wichtig, starre Parameter zu vermeiden“, konstatiert Ludwig Hornung, „und schon während des Komponierens hat mich die subtile Tonbildung der Klassik sehr inspiriert.“ Nicht zuletzt begeistert er sich für die „damals revolutionäre Art, wie Skrjabin oder Messiaen mit Akkorden und Harmonien umgegangen sind.“ Bei der Beschäftigung mit Musik des frühen 20. Jahrhunderts stieß Hornung auf einen russischen Komponisten, dessen Werke ihn direkt und nachhaltig beeinfluss(t)en: Nikolai Roslavets. „Seine Stücke bewegen sich am Rand der Atonalität, ich empfinde ihn wie einen Link zwischen Skrjabin und Schönberg. An Roslavets fasziniert mich, wie er die typisch russische Kraft, Düsternis und emotionale Schwere mit versöhnlichen Stimmungen und feinen Ziselierungen des französischen Impressionismus vereint.“
Das Album-Titelstück Strukturen weckt Assoziationen zu weiteren Klassikern, seine glitzernden Arpeggien lassen etwa an Chopin und Liszt denken. Andererseits macht Hornungs packende Improvisation deutlich, dass er vor allem ein leidenschaftlicher Jazzer ist. Als solcher verehrt er besonders Paul Bley, den 2016 verstorbenen „leisen Genius des Free Jazz“ (Melody Maker). Darüber hinaus pflegt Hornung seit seiner Jugend ein Faible für – Achtung, scharfer Schnitt – Hiphop. „Ich finde besonders diese ‚wackeligen‘ Beats interessant, die ich als erstes bei J Dilla gehört habe, mit denen aber auch beispielsweise Flying Lotus oft arbeitet“, erläutert Hornung. „Also wenn die Snare etwas zu spät oder die Kickdrum einen Hauch zu früh einsetzt. Dadurch erscheinen selbst simple Rhythmen irgendwie ungewohnt, sie bekommen etwas Schleppendes oder Asymmetrisches.“
Dieses Prinzip der spannenden Unregelmäßigkeiten nutzt Hornung im Abschluss-Stück Leer, das Oezsevim zu leicht versetzten Schlägen auffordert. In anderen Kompositionen spielt Hornung offensiv mit ungeraden Metren: die teils fließenden, dann wieder kantigen Schizzo und Mach basieren auf 7/4- und 5/4-Takten. Als Kontrast dazu verzichtet er im ruhigeren Nikolai und dem gravitätischen Wenn die Sirenen wieder rufen komplett auf rhythmische Beats zugunsten klangvoll-freier Schlagzeug-Einsätze. Eine Mischung aus beiden Ansätzen bildet Im Rausch, das zunächst auf ein konkretes rhythmisches Gefüge verzichtet, in den Solo-Teilen dann aber mit verschiedenen Taktarten arbeitet.
Die Balance, man könnte auch sagen der nahtlose Wechsel zwischen notierten und improvisierten Passagen sowie das Potential für energiegeladene, soghafte Steigerungen gehört ebenfalls zu den prägnanten Gestaltungsmitteln des agilen, 2016 gegründeten Trios. Lediglich im Titelstück hat Hornung auch den Groove klar notiert, darüber hinaus lässt er Bernd Oezsevim weitgehend freie Hand, wie der intuitive Drummer mit eigenständigen, teils komplexen Einsätzen die Stücke ausgestaltet. Hornungs Kooperation mit dem wendigen Bassisten Phil Donkin reicht zurück bis ins Jahr 2011. „Ich schätze beide sehr für ihre Energie und Fähigkeit, auch mal zurückhaltend zu begleiten“, stellt der Bandleader fest. „Phil kann hervorragend Ideen weiterdenken und Grundpfeiler bilden; er ist rhythmisch extrem versiert und ein starker Impulsgeber. Außerdem funktionieren er und Bernd perfekt zusammen – selbst wenn mal längere Pausen entstehen, weil alle Beteiligen immer wieder auch bei anderen Engagements gefragt sind.“
Wie gut das Trio miteinander harmoniert lässt sich an der Tatsache ablesen, dass sämtliche Stücke nach lediglich drei Proben im Studio eingespielt wurden. „Manches ist uns tatsächlich schon im ersten Take gelungen, an anderen Titeln haben wir dagegen relativ lange gearbeitet“, beschreibt Hornung die konzentrierte und kreative Stimmung während der Aufnahmen. Die Begeisterung danach und die einsetzende Vorfreude auf das alsbald kommende Album wurde indes durch die Pandemie gebremst – wegen Corona wurde der VÖ-Zeitpunkt vorsorglich um gut ein Jahr verschoben.
1986 in Bad Dürkheim geboren und an der Weinstraße aufgewachsen, erhielt Ludwig Hornung mit sechs Jahren ersten Klavierunterricht. Als Achtzehnjähriger gewann er mit seiner damaligen Band Vapour Trail eine CD-Aufnahme in den Bauer-Studios. Nach zwei Jahren an der Hochschule in Stuttgart wechselte Hornung ans Jazz-Institut Berlin, wo er seinen Bachelor mit Bestnote absolvierte; das dortige Jazz-Studium umfasst auch Klassikunterricht. Parallel zu seinem akustischen Trio gründete Hornung eine zweite Band, Triebwerk Hornung, in der er sich neben Saxophonist Wanja Slavin auf das Fender Rhodes fokussiert, unterstützt von John Schröder am Schlagzeug, der später von Oliver Steidle abgelöst wurde. Vor der Pandemie war Hornung zudem an den Aufnahmen eines Albums von Tobias Meinhart beteiligt, in der Folge tourte er mit dessen Band inklusive Gast-Star Kurt Rosenwinkel in Mittel- und Südeuropa und Ecuador. Seit einigen Monaten geht Hornung auch mit Solo-Programmen auf die Bühne, in denen er Jazz- und klassisches Repertoire mischt.
Einen bis jetzt noch nicht erwähnten wichtigen Aspekt von Strukturen deutet Hornung in seinen begleiteten Sätzen auf dem Cover an. Die Intensität der Musik rühre nämlich auch daher, dass er sich viel „Schmutz von der Seele“ geschrieben habe. „Die Zeit war relativ kompliziert. Die Musik reflektiert ein Spannungsverhältnis von Schmerz und Euphorie, in dem ich mich damals bewegt habe und das ich letztlich in eine positive Energie verwandeln konnte“, sagt Hornung. „Zum Umgang mit starken Gefühlen gehörte letztlich auch die Frage, wie ich mir Strukturen für mein zukünftiges Leben schaffe.“
Das neue Album des Ludwig Hornung Trios ist eine echte Überraschung, zumindest für alle, die die Band nicht in jüngerer Zeit live gesehen haben. Vielschichtige Kompositionen und Haken schlagende Improvisationen, das pointierte Spiel mit Klangfarben und Dynamik sowie die individuellen Inspirationsquellen lassen Strukturen weit aus dem bunten Feld des Piano-Jazz herausragen. Entschlossener Stilwillen, fesselnde Intensität und lebendige Spielfreude sorgen für lang anhaltenden und wiederholten Hörgenuss.
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Hornung Trio – Strukturen (english)
Perhaps the most noticeable difference between American and European jazz pianists is that those from the “old world” generally grow up with classical music before devoting themselves to improvised music. It is of course no coincidence that influences from (late) Romanticism to Classical Modernism can also be heard – now more strikingly than ever – in Ludwig Hornung’s playing. They give his compositions and his dynamic improvisations a distinctively individual character. Moreover, they reflect a striking development of the musician and his band, whose debut Spieler [Player] was released in 2017 on Double Moon Records.
The impressive palette of timbres that becomes possible solely through a finely nuanced touch on the grand piano, is essential for all pieces on Strukturen [Structures]. As is the abandonment of traditional forms, such as the typical ‘theme-solo-theme’ sequence. “It was important to me to avoid any rigid parameters,” Ludwig Hornung states, “and already while composing, the subtle tonal qualities of classical music inspired me a lot.” He is no less enthusiastic about “the way Scriabin or Messiaen handled chords and harmonies, which was revolutionary at the time.” While exploring music of the early 20th century, Hornung came across a Russian composer whose works had (and have) a direct and lasting influence on him: Nikolai Roslavets. “His pieces are on the edge to atonality, I perceive him as a link between Scriabin and Schoenberg. What fascinates me about Roslavets is how he unites the typical Russian power, gloom and emotional heaviness with the peaceful moods and delicate detail of French Impressionism.”
The album’s title piece “Strukturen” evokes associations with other classical composers, its glittering arpeggios for instance hint at Chopin and Liszt. On the other hand, Hornung’s captivating improvisation makes it clear that he is, above all, a passionate jazz player. As such, he particularly admires Paul Bley, the “quiet genius of free jazz” (Melody Maker) who died in 2016. In addition, since his youth Hornung has had a liking for – attention, sharp turn – hip-hop. “I’m particularly interested in these ‘wobbly’ beats, which I first heard from J Dilla, but which are also very present in the music of Flying Lotus for example,” Hornung explains. “Like when the snare hits a little too late or the kick drum comes a touch too early. That makes even simple rhythms seem kind of unusual, they get something draggy or asymmetrical.”
Hornung uses this principle of suspenseful irregularities in the closing piece “Leer” [Empty], which prompts Oezsevim to play slightly displaced beats. In other compositions Hornung plays with odd meters: the sometimes flowing, then again jagged “Schizzo” and “Mach” are based on 7/4 and 5/4 time signatures. In contrast, in the calmer “Nikolai” and the solemn “Wenn die Sirenen wieder rufen” [When the Sirens Call Again] he completely leaves out any rhythmic beat to make space for atmospheric, free drum parts. A mixture of both approaches can be heard in “Im Rausch” [Inebriated], which initially avoids any concrete rhythmic pattern, but then moves through different time signatures in the solo sections.
The balance, or one could also say the seamless alternation between notated and improvised passages, as well as the potential for energetic, exhilarating build-ups, are also characteristic creative means of the agile trio, that was founded in 2016. Only in the title piece did Hornung clearly notate even the drum groove; besides that, he gives the intuitive drummer Bernd Oezsevim a lot of freedom in how he shapes the pieces with independent, sometimes complex parts. Hornung’s collaboration with the versatile bassist Phil Donkin dates back to the year 2011. “I really appreciate both of them for their energy as well as their ability to accompany modestly at times,” the bandleader observes. “Phil is excellent at building on ideas and forming foundations; he’s extremely adept rhythmically and provides strong impulses. Furthermore, he and Bernd work perfectly together – even when there are longer breaks sometimes, because everyone is also in demand for other engagements.”
How well the trio’s musicians harmonize with one another can be seen from the fact that all tracks were recorded in the studio after just three rehearsals. “We actually managed to record some of the pieces in the first take, while we spent quite some time working on other tracks,” Hornung describes the concentrated and creative atmosphere of the recording sessions.
Born in Bad Dürkheim in 1986 and raised near the German Wine Route, Ludwig Hornung began taking piano lessons at the age of six. At eighteen, he won a CD recording at Bauer Studios with Vapour Trail, his band at the time. After two years at the University of Music in Stuttgart, Hornung transferred to the Jazz Institute Berlin, where he graduated with a bachelor’s degree with top marks; the jazz studies there also include classical music lessons. Parallel to his acoustic trio, Hornung formed a second band, Triebwerk Hornung, in which he focused on the Fender Rhodes alongside saxophonist Wanja Slavin, backed by John Schröder on drums, who was later replaced by Oliver Steidle. Before the pandemic, Hornung was also part of an album by Tobias Meinhart, and subsequently toured Central and Southern Europe and Ecuador with Meinhart’s band, including guest star Kurt Rosenwinkel. For some months now, Hornung has also been performing solo programs in which he mixes jazz and classical repertoire.
Hornung hints at an important but not yet mentioned aspect of Strukturen in a few sentences on the cover. The intensity of the music, he says, also stems from having put a lot of “dirt off his soul“ into the writing process. “The time was relatively complicated. The music reflects the tension between pain and euphoria that I was experiencing at the time, which I was ultimately able to transform into a positive energy,” Hornung says. “In the end, part of dealing with strong emotions was the question of how I was going to create structures for my future life.“
The new album of the Ludwig Hornung Trio is a real surprise, at least for those who have not seen the band live recently. Intricate compositions and excited improvisations, the incisive use of timbre and dynamics, and the unique sources of inspiration make Strukturen stand out far in the colorful field of piano jazz. Determined stylistic intent, captivating intensity and a lively joy in their playing ensure long-lasting and repeated listening pleasure.