Erkin Cavus & Reentko Dirks – Istanbul 1900
September 24, 2021
EAN/UPC: 705304469729
Traumton CD: 4697
„Erkin Cavus und Reentko Dirks bringen in ihrer Musik die Welten von Ost und West zusammen.“ (Milliyet, Türkei) Vielen erscheint Istanbul als ein von Mythen und Traditionen umrankter Sehnsuchtsort, andere betrachten es als Symbol für wirtschaftlichen Fortschritt. Seit den Gezi Park-Protesten 2013 sieht Westeuropa in der pittoresken Metropole am Bosporus mehr als die Hagia Sofia und andere Kulturdenkmäler. Registriert werden auch gesellschaftliche Entwicklungen. Der Gitarrist Erkin Cavus verbrachte viele Jahre seines Lebens in der riesigen, hochverdichteten und oft hektischen Stadt. Hier hat er Karriere gemacht, an der Seite berühmter Künstler gespielt, ehe er vor rund vier Jahren nach Deutschland zog. Nun setzt Cavus, zusammen mit Reentko Dirks, dem historischen Istanbul ein klingendes Denkmal. Inspiriert von Bildern des berühmten Fotografen Ara Güler (1928-2018), der als einfühlsamer und detailverliebter Beobachter zum Chronisten des Lebens seiner Heimatstadt wurde. Seine Aufnahmen des mittlerweile verblassten, teils unwiederbringlich zerstörten Istanbul und der ehedem höchst unterschiedlichen Stadtteile hängen längst in Museen. „Was ihm bildlich gelungen ist, möchten wir musikalisch umsetzen: eine Welt einzufangen und zu bewahren, die es nicht mehr gibt, deren Echos aber noch spürbar sind“, erklärt Reentko Dirks. Heraus gekommen sind suggestive Momentaufnahmen, feingliedrig und nuanciert gespielt. Das Duo konzentriert sich bewusst auf meist ruhige Töne, die das damals noch vergleichsweise langsame Leben assoziieren. Die leise Klangsprache versteht sich auch als Statement zur Gegenwart. Sie setzt sich ab vom heute allgegenwärtigen Getöse, ob im Verkehr oder in der alltäglichen Sprache. So schwingt in der Musik auch eine politische Haltung, die im Booklet ihre Fortsetzung findet: Istanbul 1900 ist 150.000 traditionellen Händlern, Künstlern und Arbeitern gewidmet, die 2020 ihre Arbeit verloren haben. Cover und Booklet des Albums zeigen Fotos von Ara Güler, darüber hinaus geben kurze Anmerkungen zu den einzelnen Stücken Fingerzeige auf die darin anklingenden Orte und Szenen. Wer schon einmal am Galata Hafen den geduldigen Anglern zugeschaut hat, mag vielleicht noch unmittelbarer in die stimmungsvolle Musik eintauchen als jene, deren Phantasie und Reiselust von Cavus und Dirks angeregt wird. Auffallend ist, dass die beiden sensiblen und hochversierten Gitarristen typische Stilmittel des Orients allenfalls anklingen lassen, aber nicht ins Zentrum stellen. Noch weniger trumpfen sie mit rasanter Technik auf. Zwar basieren viele Titel auf ungeraden Takten, etwa Galata Liman und Sokak Arasi(jeweils 9/8) oder Pera (17/8), doch machen sich die komplexen Metren im sanften Fluss der Musik kaum bemerkbar, zumindest nicht aufs erste Hören. Gleiches gilt für Vierteltöne. Erkin Cavus ist bekannt für seine Virtuosität auf einem bundlosen Gitarrenhals, der ihm das Spiel von Mikrotönen erlaubt, ähnlich wie auf der Laute Oud. Natürlich gibt es solche Vierteltöne auf Istanbul 1900, sie alleine wirken aber noch nicht stilbildend. Der Gestaltungswillen des Duos reicht weiter und reflektiert die unterschiedlichen persönlichen Hintergründe der beiden Musiker. „Damals wurden die Kinder in der fünften Klasse gefragt, welches Instrument sie lernen wollen“, erklärt Erkin Cavus, wie er zum Gitarrenunterricht kam. Geboren 1977 in Bulgarien, verfrachtete ihn der Umzug seiner türkischstämmigen Eltern 1989 nach Istanbul. „Musikalisch war ich von Anfang an eher westlich orientiert. Als Kind lernte ich drei, vier Jahre Klavier, doch schon da schätzte ich den Klang der Gitarre“, so Cavus. Seine auf westliche Klassik fokussierte Ausbildung bereicherte er durch Aktivitäten in verschiedenen Bands. 1996 begann Cavus, seine Technik auf dem bundlosen Hals zu entwickeln und ließ sich eine erste Spezialgitarre bauen. Inspiriert von Erkan Ogur, der laut Cavus als Pionier diese neue Spieltechnik etablierte. „Unter Gitarristen, die sich mit Viertel- und Mikrotönen beschäftigten, war das ein enormes Thema“, erinnert sich Cavus. Anfang der Zweitausender reifte in ihm der Plan, ein Meisterklassenstudium in Deutschland zu absolvieren. Er begann in Weimar und wechselte dann nach Dresden, weil die dortige Hochschule einen multi-stilistischen Studiengang für Gitarre anbot. Genau dieser hatte auch Reentko Dirks angelockt. Ab 2003 bildeten die beiden das Duo Kalkan, im gleichen Jahr lud Cavus Erkan Ogur für Konzerte nach Dresden ein. Später feierte Kalkan erste Erfolge: das Duo gewann den Sonderpreis beim internationalen Gitarrenwettbewerb in Osnabrück, veröffentlichte das Album Planet Kalkan, schrieb einen Spielfilm-Score. 2005 musste Cavus zurück nach Istanbul. In den folgenden Jahren spielte er immer wieder mit Ogur, aber auch in der Band des türkischen Popstars Ferhat Göcer. Unterdessen machte Reentko Dirks (*1979) in Deutschland Karriere. Er entwickelte individuelle Spieltechniken auf der Gitarre, setzte sich intensiv mit Flamenco und arabischer Musik auseinander, wohnte ein halbes Jahr in Jerusalem. Für sein Album Sounds For The Silver Screen arbeitete er teilweise mit dem Komponisten Richard Horowitz, das folgende Le Cirque wurde 2013 für den Deutschen Schallplattenpreis nominiert. Zwischenzeitlich spielte Dirks mit internationalen Großmeistern (Yo-Yo Ma, Giora Feidman) und deutschen Pop-Stars (Ben Becker, Bosse, Max Mutzke). Die von Dirks co-arrangierte und eingespielte CD Carmen mit Ksenija Sidorova erhielt 2017 den Klassik-Echo. Seit 2019 ist er festes Mitglied des Quartetts Masaa, dessen poetische Songs zwischen arabischer Melodik und Jazz changieren und weithin hoch gelobt werden. 2017 zog Erkin Cavus unter dem Eindruck der Entwicklungen in der Türkei mit seiner Frau und zwei Kindern nach Dresden, diesmal um zu bleiben. „Wir haben uns getroffen und konnten trotz längerer Pause direkt wieder an frühere Zeiten anknüpfen“, erzählt Cavus hörbar begeistert. „Natürlich hatten wir uns zwischendurch immer mal gegenseitig besucht und auch vereinzelte Konzerte ohne Proben gegeben“, beschreibt Dirks das andauernde intuitive Einverständnis, das er „blindes Vertrauen“ nennt. Es resultiere auch aus der freundschaftlichen, fast schon familiären Nähe abseits der Musik und der klaren Rollenverteilung untereinander: Cavus übernimmt meist die Melodieführung, Dirks die rhythmischen bis perkussiven Parts. Bei der Entwicklung des Repertoires für Istanbul 1900 hat sich das Duo bewusst Zeit genommen. Der stärkste kompositorische „Flow“ entwickelte sich in den Wochen vor dem Studiotermin. Die individuelle Form der Stücke, die absichtsvoll konkrete Jazz- wie traditionellen Bezüge vermeidet, „hat sich ungeplant entwickelt“, so Dirks und Cavus sekundiert: „Eine direkte Anlehnung an Maqam-Ästhetik hätte vorausgesetzt, das wir beide vierteltönig spielen. Mit der Integration von harmonischen Aspekten geht es dagegen direkt und unweigerlich nach Westen.“ Letztlich hat auch der Aufnahmeort seine Spuren hinterlassen. „Das Waldhaus-Studio liegt tatsächlich mitten in der Natur und ist eine wundervolle Insel. Wir konnten uns dort, abseits von Autoverkehr und Internet, schnell in die alte Zeit vertiefen und uns völlig fokussieren. Wahrscheinlich hat diese Stimmung das Album noch etwas impressionistischer werden lassen“, konstatiert Reentko Dirks. Das mag auch die bemerkenswerte Klarheit der Einspielungen erklären, die nachträgliche Edits überflüssig machte. Dafür genügten zwei Aufnahmetage und ein bis drei Takes pro Stück. Istanbul 1900 ist eine atmosphärische Hommage, die mitunter nachdenklich klingt, dann wieder zarte Leichtigkeit suggeriert. Angesichts des Themas Vergänglichkeit und des Umstands, dass Erkin Cavus seiner Heimatstadt nicht ganz freiwillig Adieu sagen musste, ist ein Hauch Melancholie sicher keine überraschung. Gleichwohl vermeiden die beiden Musiker jedes dramatische Pathos. Ihre Töne zeichnen, ganz im Geist der Schwarzweiß-Fotos Ara Gülers, feine Schattierungen. Selbst wenn sie in Moda schwungvoll das Nachtleben der großstädtischen Bohème oder in Pera die Dynamik in Straßencafés und -kneipen nach Feierabend imaginieren. Insgesamt entwickelt Istanbul 1900 einen sehr eigenen, subtilen Zauber, den man so nur selten erlebt. Ganz wie die Stadt, die an der Schnittstelle von Orient und Okzident Welten verbindet. |